Friedrich Fess hat einige seiner Erlebnisse aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 für Saar-Nostalgie aufgeschrieben. Ein Teil davon beruht auf seinen eigenen Wahrnehmungen.
Der andere Teil stützt sich - da er damals noch sehr jung war - auch auf Schilderungen seiner Mutter und seiner Großmutter.
1) Evakuierung Oktober 1944 – Rückkehr Dezember
1945
Ich bin im Mai 1939 inAltenkessel geboren. Die Bevölkerung von
Altenkessel hatte bereits in jenem Jahr wegen der geographischen Lage des Ortes und
seiner Zugehörigkeit zur „Roten Zone“ bzw. wegen der erwarteten Kampfhandlungen in diesem Raum ihren Heimatort verlassen müssen. Meine Mutter und
ich wurden mit den Großeltern nach Rotenburg an der Fulda evakuiert. Erst Mitte
des Jahres 1940 kehrten wir nach Altenkessel zurück.
Der Bevölkerung von
Altenkessel wurde im auslaufenden Jahr 1944 bewusst, dass der Propaganda des
Herrn Goebbels und seinem Ministerium kein Wort mehr zu glauben war. Der propagandistisch so hoch
gejubelte Westwall zeigte offensichtlich keine Wirkung und schien für die alliierten Truppen kein Hindernis zu sein. Die zurückflutenden Truppen der
Wehrmacht rasteten im Bereich einer großen Lagerhalle in Altenkessel.
Im September 1944 war ich
knapp 5 ½ Jahre alt, und die deutschen Soldaten und ihre Ausrüstung bedeuteten
für mich und meine Spielkameraden ein großes Abenteuer - sie hatten unser
ganzes Interesse. Unser Haupt-Augenmerk war natürlich auf die Pferde und die
militärischen Fahrzeuge gerichtet.
Die Erwachsenen sahen das mit
ganz anderen Augen. Ungepflegte Soldaten, ein ungeordneter Rückzug, eine von
Pferden gezogene Kanone bzw. ein Opel-Blitz, dem sechs Pferde vorgespannt
waren, all dies bedeutete für sie einen Mangel an Sprit und anderen
Transportmöglichkeiten und war ihnen damit ein Zeichen des nahenden Endes der deutschen
Wehrmacht. Diese Truppenteile einer
ehemals stolzen Armee und Flüchtlinge aus dem Elsass und Lothringen vermittelten
selbst dem größten Optimisten die Einsicht, dass der Krieg verloren war.
In Altenkessel und der Umgebung des Ortes bestimmten im Herbst 1944 hektische und
sinnlose Verteidigungsanstrengungen auf Veranlassung des „Braunen Hauses“ – so
nannte man die örtliche Parteileitung – das Geschehen, wie z.B. das
Sprengen der Saarbrücke zwischen Fürstenhausen und Luisenthal. Selbst mein
Großvater musste mit seinen 70 Jahren zum Schanzen eines Panzergrabens
antreten. Viele Leute blieben aufgrund der ständigen alliierten Luftangriffe
trotz Aufforderung dem Schanzen fern. Das hat die SS nicht davon abgehalten,
sie mit vorgehaltener Waffe zum Einsatz zu zwingen. Das Schanzen und die
Mobilisierung des Volkssturmes konnten das „Reich“ aber auch nicht vor den
fremden Truppen und dem Untergang retten.
Aufgrund der immer näher
kommenden Front und des schnellen Vorrückens der alliierten Truppen wurde die
Bevölkerung der „Roten Zone“ von Mitte bis Ende Oktober 1944 zum zweiten Mal
evakuiert. Davon war auch wieder die Bevölkerung von Altenkessel betroffen. Mama, meine Schwester Luise und
ich sowie die Großeltern und ein älterer Onkel und seine Familie wurden Ende Oktober
in die Stadt Gotha im „Bergungsgebiet“ Thüringen transportiert. Etwas später folgten noch eine
Tante und andere Bewohner von Altenkessel und Luisenthal.
Etwa Mitte März 1945 ließ der Gauleiter Sauckel von Thüringen die Bevölkerung der Stadt auf dem Marktplatz zwischen Rathaus und Wasserkunst (eine Wasserspiel- und Brunnenanlage in Gotha) zusammentreiben. Man muss dieses Wort wohl gebrauchen, denn SS und Polizei taten dies auch mit vorgehaltener
Waffe.
Sauckel hielt eine mit Durchhalteparolen bestückte Rede, in der er die Leute
aufforderte, die Stadt unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen.
Daran kann ich mich noch gut erinnern. Er stand an der
Wasserkunst und fuchtelte mit seinen Händen in der Luft herum. Mama, die Bürger
aus Altenkessel und die Einwohner der Stadt Gotha standen da mit versteinertem
Gesicht. Sie alle wussten, der Krieg war verloren, und die Amerikaner standen
bereits bei Eisenach, nur wenige Kilometer von Gotha entfernt.
Es muss die Leute schon Nerven gekostet haben, sich solch
einen idiotischen und ideologisch durchsetzten Quatsch anzuhören. Der Krieg
hatte wohl aber abgestumpft und der Einzelne hoffte stoisch darauf, das Kriegsende
unversehrt und schnell zu erleben. Später hörte man, Saukel hatte sich nach dieser Rede mit
dem Flugzeug in die „Alpenfestung“ in den bayerischen Alpen abgesetzt. Dort
spürten ihn aber die Amerikaner auf und führten ihn einer gerechten Strafe zu.
Ein Hinweis darauf, dass der Krieg zu Ende ging, war auch
der Rückzug der deutschen Truppen aus einer Kaserne in der Nähe unserer
Wohnung. Bereits Ende März verließen die deutschen Truppen fluchtartig die
Stadt. Der gesamte Tross zog an unserer Wohnung vorbei. Dies nutzten natürlich
die in dem Viertel wohnenden Saarländer und der Rest der Bevölkerung: Sie
stürmten die Kaserne. Die zurückgebliebene Wachmannschaft ließ dies ohne
Widerstand geschehen bzw. beteiligte sich an der Suche nach brauchbaren Sachen.
Auch Mama und mein Großvater waren mit dem Handwagen zur Kaserne gezogen.
Beide kamen mit drei Doppelzentnern Bohnen, einigen Dosen Schmalz und mehreren
Bahnen Filz zurück. Die Filzbahnen waren ursprünglich zur Herstellung von
Winterstiefeln für die Wehrmacht gedacht gewesen. Ein Schuster aus Altenkessel
fertigte später für unsere und seine Familie daraus Winterschuhe. Zum Laufen
waren diese „Schuhe“ nicht gedacht, aber sie hielten zumindest von Oktober –
Dezember 1945 unsere Füße warm.
Schon zwei Tage später erschienen Angehörige
der Reichskriminalpolizei und des Reichssicherheitsdienstes (SD) in der Straße
und durchsuchten die Häuser nach so genanntem „Volkseigentum.“ Hierbei wurden
einige Männer und Frauen festgenommen und aufgrund eines Schnellgerichtsurteils
wegen Plünderei wohl zur Abschreckung noch in der Straße standrechtlich
erschossen. Darunter waren auch einige Saarländer.
Mama hatte aber wie so oft
einen guten Riecher. Vor dem Wohnungseingang jeder Etage in unserem Haus waren
immer 10 bis 15 Tüten mit jeweils einem ½ Zentner Sand aufgestellt. Dieser Sand war zum Löschen
von Bränden bei einem Bombenangriff gedacht. Mama leerte die Tüten und füllte
sie mit Bohnen auf. Im oberen Teil steckte sie Zeitungsteile in die Tüte und
füllte den Rest wieder mit Sand auf. Die Durchsuchung unserer Wohnung verlief
ergebnislos. Mama verabschiedete die Leute von SD und Polizei mit einem
freundlichen und nichts sagenden „Heil Hitler.“ Das für uns positive Ergebnis der Durchsuchung hatte zur
Folge, dass wir uns mehrere Monate von Bohnen ernährten. Es hat aber auch unser
Überleben bewirkt. Morgens gab es Bohnensuppe, mittags Bohnensalat mit
Kommissbrot und abends Bohnengemüse.
Am 4. April 1945 hatten die amerikanischen Truppen die
Stadtgrenze erreicht. Beim Vorrücken der amerikanischen Verbände an diesem Tag
übergab der Stadtkommandant Josef Ritter von Gadolla die Stadt
kampflos an die Amerikaner. Er wollte mit seinem Angebot eine weitere schwere
Zerstörung der Stadt und unnötige Verluste verhindern. Am
gleichen Tag wurde er wegen „Versuchter Übergabe des Festen Platzes Gotha an
den Feind“ verhaftet und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am nächsten Tag in
Weimar vollstreckt. Durch sein mutiges Verhalten hatte er Tausenden von Menschen, darunter
auch einigen Saarländern, das Leben gerettet und die Stadt vor der vollkommenen Zerstörung
bewahrt. Die Stadt Gotha brachte später für Gadolla eine Gedenktafel am
Schloss Friedenstein an.
Entsprechend den Beschlüssen der Konferenz von Jalta
erfolgte im Juli 1945 die Übernahme der Stadt Gotha durch sowjetische Truppen. Wir hätten diese Übernahme fast gar nicht bemerkt, denn ihre Jeeps und LKW hatten die gleiche Farbe wie diejenigen der Amerikaner. Die Fahrzeuge unterschieden sich lediglich durch die
Sterne. Die amerikanischen Fahrzeuge trugen einen weißen und die sowjetischen
einen roten Stern. Wie man nach dem Krieg wusste, waren die sowjetischen Fahrzeuge
ein Teil der amerikanischen Militärhilfe an die Sowjets.
Beim Einmarsch der sowjetischen Kampftruppen ging es
nicht so human zu wie bei den Amerikanern. Sie bestanden
überwiegend aus Mongolen. Diese rissen deutsche Frauen und
Mädchen von der Straße in den Straßengraben und vergewaltigten sie dort. Mama
ging tagelang nicht mehr auf die Straße. Ich selbst habe solche Dinge mit
eigenen Augen gesehen. Unsere Nachbarin in der Brunnenstraße entging einer Vergewaltigung nur durch das Eingreifen eines russischen Offiziers.
In den ersten Novembertagen
fiel im Jahre 1945 in Gotha Schnee und es war in der Wohnung bitterkalt. Mama
wickelte meine Schwester Luise deshalb immer in Wolldecken ein und setzte sie
während des Tages in die Bettdecken, die sie noch während des Krieges aus
Altenkessel geholt hatte. Ansonsten haben wir zusammen mit anderen Saarländern Kohle geklaut.
Die Kohlenzüge für die
sowjetischen Truppen im Thüringer Wald mussten in der Nähe von Gotha eine
Steilstrecke überwinden. Dies nutzten Mama und andere Frauen aus dem Saarland:
Sie kletterten auf die Züge und warfen Kohlenbrocken nach unten. Wir Kinder
sammelten die Kohle auf und versteckten sie im Kinderwagen. Die geklaute
Kohle versetzte uns in die Lage, die Wohnung einigermaßen warm zu halten.
Während der Klauaktionen passten ältere saarländische Frauen auf die
Kleinkinder auf.
Mitte November 1945 wollten die Sowjets die Saarländer
loswerden. Wir waren für sie nur unnötige Esser und stellten bei der Versorgung
eine Belastung dar. Die Bewohner von Altenkessel und aus anderen Teilen des
Saarlandes wurden in offenen Güterwagen in ein Lager bei Eisenach und nahe der Zonengrenze
zwischen dem amerikanischen und sowjetischen Sektor transportiert. Dort mussten
wir einige Wochen bei Wassersuppe mit fauligem Gemüse aushalten. Die Sowjets
wollten keine Transportmittel stellen und so mussten wir warten, bis die
Amerikaner genügend Transportraum zur Verfügung hatten. Mama hat in diesem
Lager einige Schwächeanfälle erlitten; denn das wenige, das es zum Essen gab,
teilte sie zum Großteil auf meine Schwester Luise und mich auf. Endlich
war es so weit. Die Amerikaner hatten Güterzüge zusammengestellt und die
Waggons notdürftig mit Stroh ausgestattet. Als wir an der Reihe waren, ist Mama
wegen ihrer körperlichen Schwäche wieder zusammengebrochen. Gott sei Dank war meine
Großmutter da. Sie blieb bei uns und erreichte über den Bürgermeister von
Altenkessel, dass wir vier am nächsten Tag mit ihm in einem anderen Transportzug
zusteigen konnten.
In mehrwöchiger Fahrt ging es quer durch das zerstörte
Deutschland in Richtung Saarbrücken. Nach etwa 14 Tagen stand der Zug eine
Nacht in Mainz-Kastel auf dem Güterbahnhof. Auf der anderen Rheinseite begann
der französische Sektor und die Franzosen wollten nicht, dass der Zug den Rhein
überquerte. Die ehemalige Eisenbahnbrücke über den Rhein war in den Kriegstagen
zerstört worden. Um den Rhein wieder für Züge passierbar zu machen, hatten die
Alliierten eine Notbrücke errichtet. Hierzu waren auf den Pfeilern der
zerstörten Brücke nur Gleise verlegt worden. Ein Seitenteil gab
es nicht auf der Brücke. Unser Zug fuhr dann am nächsten Morgen auf Anordnung der Amerikaner
auf die Notbrücke, um über diese den französischen Sektor zu erreichen.
Wiederum verwehrten die französischen Militärbehörden die Einfahrt unseres
Transportes in den Hauptbahnhof Mainz. Einige Stunden stand der Zug auf
der Notbrücke. Mama und meine Großmutter hatten die Schiebetür des Güterwagens
geöffnet, um frische Luft herein zu lassen und das Geschehen zu verfolgen. Nach
den Schilderungen der beiden fuhren plötzlich auf der Mainzer Seite
amerikanische Fahrzeuge mit Maschinengewehren auf. Die amerikanischen Soldaten
erzwangen damit die Weiterfahrt in Richtung Saarbrücken. Der Zug setzte sich
ruckelnd in Bewegung. Der Schreck saß allen in den
Gliedern; aber dann herrschte die Freude vor, weil wir endlich in Richtung Heimat fuhren.
In den Morgenstunden des 24. Dezember 1945 erreichte der Zug den
Güterbahnhof zwischen Jägersfreude und Saarbrücken. Dort wurden wir bereits von
Onkel Wilhelm erwartet. Er hatte die Nachricht von Onkel Julius erhalten.
Dieser war bereits zwei Tage vor uns dort eingetroffen. Da alle Transportzüge
um diese frühe Morgenzeit erwartet wurden, stand Onkel Wilhelm bereits den
dritten Tag dort. Er sagte uns, dass Tante Anna uns bereits in
Altenkessel erwarte. Sie war schon seit 14 Tagen wieder in Altenkessel gewesen. Meine
Großmutter blieb zunächst mit unseren Utensilien in Jägersfreude. Mama packte meine
Schwester Luise wieder in das Bettzeug und setzte sie in den Handwagen. Die
nötigen Sachen packte sie sich selbst und mir in einen Rucksack. So machten wir
uns zu Fuß auf den Heimweg, vorbei an zerstörten Häusern, schwarzen Ruinen
und menschenleeren Straßen.
Auf dem ganzen Weg nach
Altenkessel sahen wir vielleicht zehn Menschen, die alle irgendein Ziel erreichen
wollten. Am späten Nachmittag waren wir nach ca. 12 km Fußweg endlich in Altenkessel. Tante Anna freute sich sichtlich, uns gesund und heil wieder zu
sehen.
Unsere Wohnung war geplündert worden. Nachbarn erzählten, es seien auch deutsche Soldaten auf dem Rückzug
dabei gewesen. Mama hatte Schmuck, Geschirr und einige andere Sachen in Ölpapier
eingeschlagen und in einer Blechkiste im Garten vergraben. Das Versteck hatte
niemand entdeckt. Tante Anna und Mama reinigten
über die Festtage unsere Wohnung von dem gröbsten Schmutz, so dass sie wieder
bewohnbar war.
Eigentlich hätte ich im Mai 1945 eingeschult werden
müssen. Bedingt durch die Evakuierung und die verspätete Rückkehr geschah das
natürlich erst später, und zwar Anfang 1946. Die Evakuierung hatte die Altenkesseler Bewohner ja in
die „Bergungsgebiete“ Mitteldeutschlands und nach Mainfranken zerstreut (siehe Abschnitt 1). An manchen Orten trafen dort saarländische Lehrer ihre Schulkinder aus der Heimat.
1937 war von der nationalsozialistischen Reichsregierung per
Reichsgesetz die Umwandlung der bis dahin bestehenden Konfessionsschulen in Gemeinschaftsschulen angeordnet
worden. Zum 1. Oktober 1945 erfolgte im Saarland erneut eine Änderung
in der Schulform. Die Wiedereinführung der Konfessionsschule brachte eine erneute Trennung nach
dem religiösen Bekenntnis mit sich. Von dieser Neuregelung wussten wir
natürlich wegen unserer späten Rückkehr in die Heimat nichts. So
brachte mich Mama im Januar 1946 zuerst einmal in die frühere Knabenschule in
der Schulstraße in Altenkessel. Erst nach zwei Wochen stellte man fest, dass
ich der evangelischen Kirche angehörte und wohl an der falschen Schule war.
Dies bedeutete für mich eine Umschulung zur "Evangelischen Großwaldschule". Die Kuriositäten hörten aber nicht
auf, denn die beiden ersten Pädagogen, die ich an der evangelischen Schule hatte, waren eine katholische
Lehrerin und ein katholischer Lehrer.
Erwähnen möchte ich noch den Umstand, dass ich in den
sehr kalten Wintertagen der Monate Januar bis März 1946 keine Winterbekleidung
hatte. Ich trug lange Strümpfe und Sommersandalen. Die Filzschuhe hatten
mittlerweile ihr Leben ausgehaucht. Die Strümpfe waren mit Gummibändern an
einem „Leibchen“ befestigt. Dazu gab es eine kurze blaue Bleyle-Sommerhose. Als
Oberbekleidung habe ich zwei übereinander gezogene Pullover getragen. Wenn es
sehr kalt war, trug ich auch zwei paar lange Strümpfe übereinander. Neben
meinem Ranzen transportierte ich in den Wintermonaten jeweils auch ein Stück
Steinkohle morgens zur Schule. Mit dieser Kohle trugen wir Bergmannskinder zum
Beheizen des Klassenraumes bei. Wir waren als Bergmannskinder privilegiert, denn den
Bergmannsfamilien stand in dieser Zeit auch ein gewisses Quantum an
Deputatkohle zu. Dieses Recht hatte die französische Verwaltung der Gruben
nicht beschnitten, sondern beibehalten.
Die wenigen kurz nach dem Krieg zur Verfügung stehenden
Lebensmittel mussten rationiert und mit Hilfe von Lebensmittelkarten auf die
Bevölkerung verteilt werden. In dem ersten Nachkriegsjahr herrschten Hunger und
Not, Zerstörung und Elend. Keiner wusste, wie es weiter gehen sollte. Es gab
stetig einen Kampf um das tägliche Essen! Nach vorliegenden Unterlagen
lag die Kalorienzahl, die uns täglich zur Verfügung stand, 1946 noch unter dem von der Militärregierung angestrebten Satz von 1550 Kalorien. Hiervon konnte keiner
satt werden. An Winterkartoffeln wurden zwei Zentner pro Person zugeteilt. Die
Bevölkerung ernährte sich vorwiegend von Kartoffeln. Doch diese Zuteilung war
in kurzer Zeit aufgebraucht. Brot und Fett waren Mangelware.
Wir hatten Glück, dass Mama
nicht rauchte. Sie hatte sich aber trotzdem als "Raucherin" angemeldet. So konnte sie die
Zigaretten gegen andere Lebensmittel eintauschen. Zigaretten hatten damals eine
Bedeutung wie bares Geld und galten als wichtige Nebenwährung.
Die Bevölkerung war gezwungen, sich zur Bekämpfung des
Hungers zusätzliche Nahrungsquellen zu erschließen, wozu besonders das Hamstern und der Schwarzmarkt gehörten. Es entstand ein reger Tauschhandel Ware gegen Ware. Um das nackte Überleben zu sichern, wurden Goldstücke, Schmuck,
Bilder und andere wertvolle Gegenstände bei den Bauern gegen Brot, Kartoffeln,
Gemüse und so weiter eingetauscht. Mancher Bauer hat sich in dieser Zeit eine
goldene Nase verdient. Auch Mama hat sich an diesem Tauschhandel
beteiligt. Sie fuhr jedes Mal in die Gegend bei Mettlach und verhökerte dort
ihren Schmuck und große Teile der Bettwäsche. Eine bessere Ausgangsposition
hatte sie natürlich später mit den von Papa geschickten Zigaretten auf dem
Schwarzmarkt. Dort wurde ein Pfund Kaffee mit einem Wert von 700 bis 800
Reichsmark gehandelt. Für eine einzige Zigarette wurden je nach Qualität 6 bis 10
Reichsmark bezahlt.
In unserem Garten haben meine Großmutter und Mama den Rasen entfernt und Kartoffeln, Tomaten und Stangenbohnen angepflanzt. Eine zusätzliche
Nahrungsquelle bildeten die von meinem Großvater vor dem Krieg gepflanzten Kirsch-,
Apfel- und Pflaumenbäume, sowie Johannisbeeren und Stachelbeeren. Wir Kinder haben in den nahe liegenden Wäldern Bucheckern
gesammelt und diese zu einer Sammelstelle gebracht. Dort wurden sie in dieser „fettlosen Zeit“ der ersten
Nachkriegsjahre zu Öl gepresst. Als Kaffee-Ersatz haben wir Eicheln gesammelt,
und meine Großmutter hat sie auf einem Backblech geröstet und zu „Kaffee“
zermahlen. Brennnesseln wurden zu Gemüse und Spinat verarbeitet.
Mitunter wurden aus Kartoffelschalen Suppen gekocht. Man
sprach im Saarland damals von der "Rappsuppzeit“.
Ein typisches Essen in dieser Notzeit war die tägliche Rappsupp. Eine aus Kartoffelschalen gewonnene ausgekochte
Kartoffelmasse wurde mit Wasser aufgekocht und etwas angedickt zum Essen
gereicht. In ihrer Konsistenz sah sie aus und schmeckte wie Nasensekret.
Wenn die älteren Bewohner meines Heimatortes von der damaligen Zeit sprechen, reden sie immer noch von „der schlechd Zeit“.
Amerikanische Care-Pakete, Spenden kanadischer und amerikanischer Kirchen, aber auch die Paketsendungen deutscher Kriegs- gefangener
in den USA trugen zu einer Zusatzverpflegung für die Hungernden an der Saar
bei.
Papa war als Angehöriger des Afrika-Korps in
amerikanische Gefangenschaft geraten und arbeitete in einer chinesischen Wäscherei
in Ohio. Ab Mitte 1946 durfte er aus der Kriegsgefangenschaft in den USA alle drei
Monate ein Paket nach Hause schicken. Er hat dies mit seinem dort verdienten
Geld finanziert. Wenn uns ein solches Paket erreichte, fielen Ostern und
Weihnachten immer auf einen Tag. In den Paketen waren so herrliche Sachen wie
Schokolade, Kaffee, Kakao, Butterschmalz, Eipulver, Knäckebrot und was sehr
wichtig war, 20 Zigaretten. Wir Kinder verschlangen mit Wonne die aus dem
Eipulver gebackenen Omeletts und den heißen Kakao. In
einem solchen Paket befanden sich einmal ein paar Lederschuhe für mich. Leider
waren sie zu groß. Mama hat sie bei einer der damals üblichen „Tauschstellen“
gegen ein Paar passende Schuhe umgetauscht. Sie entsprachen natürlich nicht der
Qualität der aus den USA übersandten Schuhe. Es spielte aber keine Rolle. Ich
war endlich im Besitz von Schuhen und brauchte im Winter nicht mit Sandalen zu
laufen.
Nachdem bereits im Juli 1945 die amerikanischen Truppen
durch französische Truppen abgelöst worden waren, bildete das Saarland zusammen
mit den heutigen Bundesländern Ländern Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die
neue französische Besatzungs- zone. Schon im Oktober 1945 wurde
die Saar aber aus dieser herausgelöst und in den französischen Wirtschaftsraum
integriert. Die neue französische Militärregierung erntete bei der
saarländischen Bevölkerung durch ihre Anordnungen keinen Beifall, sondern manchmal eher Hass auf das Besatzungsregime. Ich will dies an zwei Beispielen
darstellen:
a) Namensänderungen:
Unsere Nachbarn hießen damals
Schönhof und Ritter. Sie mussten ihre Namen in offiziellen Mitteilungen in Bonnecour und Chevalier verändern. Unser Familienname wurde
ursprünglich in der Sütterlinschrift Fehs
geschrieben. Auf Anordnung der Nazi-Regierung hatte die Schreibweise
in Feß verändert werden müsse. Da die französische Sprache
kein scharfes s (ß) kennt, erfolgte nun auf Anordnung der Militärregierung die neue
Schreibweise Fess. Dies alles fand
auch so seinen Niederschlag in Urkunden, die zu den unterschiedlichsten
Anlässen durch das Standesamt Altenkessel ausgestellt wurden. Inwieweit dies alles ausschließlich
auf Anordnung der Militärregierung erfolgte oder in dieser Form durch einen
servilen Gemeindeinspektor der damals selbständigen Gemeinde Altenkessel
umgesetzt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls haben die Urkunden
mit den unterschiedlichen Schreibweisen in meinem Berufsleben als Bundesbeamter
einige Verwirrung erzeugt.
b) Entfernung
von Emblemen auf Grabsteinen:
Mein leiblicher Vater war schon im
Oktober 1940 im Alter von 26 Jahren als Soldat gefallen. Er wurde in der Nähe
von Blieskastel beim Sprengen und Räumen von dort verlegten Landminen an der
deutsch-französischen Grenze getötet. Er war der erste Soldat aus Altenkessel,
der im Krieg gefallen war. Entsprechend hoch war sein Bekanntheitsgrad und die
Beteiligung der Altenkesseler Bevölkerung und seiner Kameraden. Von der Gemeinde wurde er auf
einem Ehrenfeld bestattet, auf dem später auch alle anderen Gefallenen aus
Altenkessel ihre letzte Ruhe fanden. Auf ganz besondere Bestürzung
unserer Familie und der Bürgerschaft von Altenkessel traf deshalb die Anordnung
der Militärregierung, die Embleme von den Grabsteinen auf dem Ehrenfeld zu
entfernen. Alle hätten zumindest dafür
Verständnis gehabt, das Hakenkreuz zu entfernen; aber selbst das Eiserne Kreuz,
das ja nun bestimmt nichts mit dem NS-Regime gemein hatte, und der Dienstgrad
mussten entfernt werden. Meine Mutter hat dies schweren Herzens mit einem Hammer
und einem Meißel selbst erledigt, weil es innerhalb kurzer Zeit geschehen
musste.
Meine Mutter hat 1943 einen Bruder meines Vaters geheiratet. Wenn ich in diesen Schilderungen
von Papa spreche, so ist es mein zweiter Vater. Wir beide waren auch in späteren
Jahren wie Vater und Sohn. Im Oktober 1947 kam er aus der Gefangenschaft zurück. Mama war mit einer Nachbarin noch
einmal auf „Hamsterfahrt“ gegangen. Als sie am Bahnhof Luisenthal in den Zug
nach Mettlach einsteigen wollte, öffnete sich die Abteiltür von innen und vor ihr stand - Papa! Sie konnte es nicht fassen und war fast einer Ohnmacht nahe. Papa war zwischenzeitlich von den Amerikanern nach
Belgien ausgeliefert worden. Dies wusste Mama wohl, aber nichts von seiner
Freilassung.
Er hatte einige Monate in einem belgischen Bergwerk
arbeiten müssen und war dann kurzfristig auf Drängen der französischen
Regierung mit anderen saarländischen Bergleuten in die Heimat entlassen worden.
Die entlassenen Kriegsgefangenen sollten natürlich zur Unterstützung der
französischen Wirtschaft so schnell wie möglich ihre Arbeit in den
saarländischen Bergwerken aufnehmen.
Nachdem Mama an diesem Tag zur Hamsterfahrt aufgebrochen war, passte unsere Großmutter auf
uns Kinder auf. Als sie kurzfristig in ihre Wohnung gegangen war, nutzten Luise und ich die Gelegenheit, um auf der Couch unter dem Küchenfenster herumzutollen. Plötzlich sah ich Mama hereinkommen und neben ihr einen Mann. Ich sagte zu Luise:
„Ich glaab, de Babbe kummt hemm!“ Luise antwortete: „Wer is donn dass, de
Babbe? Einen „Babbe“ hatte sie ja noch nicht kennen gelernt.
Dieser Mann trug eine uniformähnliche Bekleidung. Später
stellte sich heraus, es war die Uniform des Afrika-Korps, aber ohne
Dienstgradabzeichen. Papa hatte sie die ganzen Jahre in der Gefangenschaft
getragen. Er konnte sie während der Zeit in Amerika und seiner
Arbeit in einer chinesischen Wäscherei entsprechend pflegen. Als Papa uns erblickte, war
er genau so perplex wie wir, denn er sah ein nunmehr fast fünfjähriges Mädchen vor sich. Er
hatte Luise zuletzt als Baby gesehen. Aus lauter Freude und Rührung über seine
Heimkehr zu der Familie und seine Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft trat bei
ihm eine temporäre Lähmung der Stimmbänder ein. Unsere Eltern mussten wochenlang
üben, bis Papa seine Stimme wieder erhielt.
Ende Dezember 1946 waren auf Anordnung der französischen Militärregierung Grenzkontrollen
zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz eingerichtet worden. Diese Grenze musste man
passieren, wenn man vom Saarland „ins
Reich“ reisen wollte. Ältere Leute aus Altenkessel benutzen diesen Ausdruck noch heute. Selbst als ich nach 1960 meinen Dienst beim
Bundesgrenz- schutz antrat, sagte Mama immer noch: „Unser älschder Bub is beim Bundesgrenzschutz driwwe im Reich.“
Mit der Einführung der Frankenwährung konnte im Saarland plötzlich wieder vieles gekauft werden, aber dafür stiegen die Preise auch
in fast phantastische Höhen, und ein Brot kostete nach der Einführung fast viermal so viel wie vorher. Alle anderen Waren wie Schuhe und Bekleidung bzw. Möbel konnten
schon bald frei gekauft werden. Die aus Frankreich stammenden Dinge wurden zu
überzogenen Preisen angeboten.
Papa nahm im Dezember 1947 seine Arbeit auf der Grube
Luisenthal auf. Ab dieser Zeit ging es uns wesentlich besser. Mit seinem
Verdienst konnten wir Dinge kaufen, die im Krieg zerstört worden waren und für die
bisher kein Geld vorhanden war. Papa bekam auch die Schwerstarbeiterzulage.
Er verdiente mehr und erhielt vor jeder Einfahrt in das Bergwerk eine warme Mahlzeit und belegtes
„Schichtenbrot“. Ich begleitete ihn oft, wenn er mittags zur Arbeit ging. Dort veranlasste er, dass seine Mahlzeit in eine
Milchkanne gefüllt wurde. Meist war es mehr als die normale Portion. Das Essen
brachte ich nach Hause und die gesamte Familie zehrte davon. Er selbst hat sich
zu Hause oft nur mit einer Nudel- oder Gemüsesuppe abgefunden.
Im August 1948 wurde unser Bruder Willi geboren. Mama
überlistete mit seiner Hilfe die Kontrollen an der neuen Grenze. So war sie eines
Tages im Hunsrück zum Besuch bei Bekannten auf einem Bauernhof mit
Schweinezucht. Diese schenkten ihr einen geräucherten Hinterschinken. Zu dieser
Zeit ein Wahnsinnsgeschenk. Das Problem war jedoch - wie sollte man diesen Schinken über
die Grenze ins Saarland einführen? Mama war mal wieder clever. Zunächst
wurde der Schinken in Papier und Handtücher gewickelt. Dann umgab ihn eine Lage
trockene Kinderwindel. Nun kam die Attraktion. Der Schinken wurde in eine
Windel einschlagen, die die Reste fester Nahrung des Babys enthielten und zu
den Füßen meines Bruders deponiert. Die Bekannten brachten meine Mutter in die
Nähe des Grenzüberganges bei Hermeskeil. Es kam, wie es kommen musste. Die
Zöllner durchsuchten die Taschen meiner Mutter und den Kinderwagen. Die
Kontrolle endete damit, dass der Zöllner in die „Hinterlassenschaften“ meines
kleinen Bruders fasste und nur mit Mühen einen Schreikrampf verhindern konnte. Mama
eilte davon und der geräucherte Schinken aus dem Hunsrück war gerettet.
|